Freitag, 22. September 2017

36. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 29. Juni 2017

Sayima Kutluer, Aufbruch Neukölln e.V.

"Der Mensch hilft dem Menschen und etwas Übernatürliches wird gespürt ."
(Sankt Martin, Hizir).

Sayima Kutluer ist Rechtsanwältin und Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins „Aufbruch Neukölln e. V., der sich im sozialen, schulischen und erzieherischen Bereich engagiert. Unter dem Ziel, das Zusammenleben mit den unterschiedlichen Kulturen im Stadtteil zu fördern, organisieren ehrenamtliche Mitglieder verschiedene Projekte. Es gibt internationale Vätergruppen, eine Müttergruppe, mehrsprachige Elternversammlungen, eine Musikgruppe, eine Malgruppe, eine Woche der Sprache und des Lesens, eine Anti-Glücksspielsuchtgruppe, das alles in mehreren Sprachen. Dabei stehen Personen mit Migrationshintergrund im Fokus. Außerdem macht der Verein Flüchtlingsarbeit und bietet eine Rechts- , Sozial- und eine Rentenberatung an. Die Finanzierung der Projekte erfolgt über Projektförderungen und Spenden (s. Kazim Erdogan).
Sayima Kutluer hat mir in ihrer überzeugenden Art versichert, dass sie gern zu uns ins Erzählcafé kommt. Nun sitzt sie unter uns, hört bei der Vorstellungsrunde jedem einzelnen aufmerksam zu und brennt darauf loslegen zu können. Es scheint ihr sehr wichtig zu sein, uns ihre Sicht der Dinge nahezubringen.

Im Jahr 1974 steigen in der Osttürkei 15 türkische Kinder und drei Erwachsene in den Zug nach Istanbul, von dort aus mit dem Flugzeug nach Berlin. Unter ihnen ist Sayima, knapp zwei Jahre alt, mit drei Geschwistern und ihren Eltern. In Berlin werden sie von Verwandten erwartet, die dort als Gastarbeiter in Lohn und Brot stehen. Sayima wächst in Moabit auf und zieht später in den Wedding. Heute lebt sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern, ihren Eltern und ihrer Schwester mit Familie in Spandau, arbeitet aber in Neukölln. Sayimas Familie und die der Schwester bewohnen jeweils ein Haus auf demselben Grundstück und kümmern sich um ihre Eltern.

In Moabit braucht Sayima keinen Kindergarten zu besuchen: „Mit meinen sechs Geschwistern hatte ich meinen Kindergarten zu Hause.“ Die Mutter kümmert sich liebevoll um den Nachwuchs; der Vater ist streng, aber gerecht. „Bei einem Haushalt mit neun Personen in einer Zweieinhalb-Zimmerwohnung braucht man eine gewisse Struktur“, meint Sayima. Natürlich gibt es auch Streit. Aber wenn sich ein Kind hinter der Mutter verbirgt, sich am „heiligen Ort“ befindet, wird es in Ruhe gelassen. Diese Schutzzone akzeptieren alle Familienmitglieder. Für Sayima ist das Elternhaus ein „Hort der Liebe“. Obwohl beide Eltern Analphabeten sind, beschreibt Sayima sie als sehr intelligent. Die Mutter beispielsweise beherrscht mündlich fünf Sprachen. Und der Vater versteht das deutsche Fernsehen. Innerhalb der Familie wird mit den Eltern Türkisch, wenn die Geschwister unter sich sind, Deutsch gesprochen.

Während es zu Hause diszipliniert zugeht, kann Sayima in der Schule mit „wunderbaren Lehrern“ ihre Gedanken frei entfalten. „Ich war ein Kind wie alle anderen. Nie spürte ich einen Identitätskonflikt.“ Sie lernt spielend Deutsch, muss sich nichts bewusst einprägen. Aber sie erinnert sich an eine Situation, in der ein Wort so nachdrücklich ausgesprochen wurde, dass es sich in ihrem Gedächtnis festgesetzt hat. Ein Nachbarsjunge ruft seiner Mutter zu: „Ich habe Hunger.“ Dabei zieht er das U besonders lang und spricht das ER am Ende wie ein A aus. „Huuuungaaaa!“ Was für ein hässlicher Laut, denkt sich Sayima. Sie fragt den Jungen, was er sagt, und lernt das erste Mal ein deutsches Wort bewusst.
Es sind zwei verschiedene Welten, in denen sich Sayima täglich bewegt: die Schule und das Zuhause. Sie ist eine selbstbewusste und gute Schülerin. Der Vater unterstützt das, aber er möchte, dass alle seine Kinder gut in der Schule sind und später auch einen Beruf erlernen. Für jede Eins auf dem Zeugnis verspricht er etwas Geld. In der 5. Klasse legt Sayima ein Zeugnis mit 14 Einsen bei 16 Fächern vor. „Du machst mich arm“, sagt er zu ihr. „Ich muss deinen Brüdern das Geld geben, damit sie sich mehr anstrengen. Du weißt ja: je mehr du lernst, desto größer wird dein Erfolg für dich selber im Leben sein. Und dein Geld wirst Du für dich verdienen.“

Sayimas ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit lässt sie an der Haltung ihres Vaters, der die Brüder bevorzugt, verzweifeln. Doch auch eine Lehrerin tut ihr Unrecht. Einmal tobt Sayima mit einem Jungen auf dem Hof, nachdem sie ihn, übrigens zum ersten Mal in ihrem Leben, bewusst geärgert hat. Der Junge jagt sie. Die Lehrerin schimpft ihn aus. Da sagt Sayima, das sei ihre Schuld, weil sie den Jungen gereizt habe. Darauf die Lehrerin: „Du verteidigst immer nur deine Landsleute!“ Sie weiß, dass Sayima oft für Schwächere eintritt. „Doch das beruhte immer auf der Wahrheit“, beteuert Sayima noch heute. Wieder verzweifelt Sayima; diesmal an den Vorurteilen der Lehrerin, die zu dieser ungerechten Aussage führten und einen Unschuldigen bestraften.

Nach diesen beiden Schlüsselerlebnissen beschließt Sayima Rechtsanwältin zu werden, weil sie findet, dass Gerechtigkeit nicht per se besteht, sondern ein durch Perspektivwechsel zu erreichendes Ziel ist. Von 1993 bis 2001 studiert sie Jura an der Berliner Humboldt Universität. Das Geld für das Studium verdient sie sich als Verkäuferin im KaDeWe. Danach arbeitet sie als Rechtsanwältin. 2007 wird ihre erste Tochter geboren, 2010 folgt die zweite. Gleichzeitig gründet sie ihre eigene Kanzlei. Sayima kommt an ihre Grenzen, sie fühlt sich überfordert. Wären da nicht Freunde und vor allem ihre Schwestern gewesen, die bei der Kindererziehung geholfen haben, hätte sie vielleicht den Beruf an den Nagel gehängt. Gemeinsam meistern sie diese Krise.

Ein juristischer Fall führt sie zum Verein Aufbruch Neukölln: In einem Scheidungsverfahren wünscht eine türkische Mandantin, die selbst ohne Vater aufgewachsen ist, dass die Tochter weiterhin mit ihrem Vater in Kontakt bleiben soll. Der religiös geprägte Mann aber hat andere Vorstellungen, und Sayima kommt mit den Verhandlungen nicht voran. Sie sucht Hilfe bei Kazim Erdogan, der als Sozialarbeiter und Psychologe den Verein Aufbruch Neukölln und darin eine türkische Männergruppe aufgebaut hat. Ihm geht es um ein friedliches Miteinander der Menschen auf Augenhöhe und gegenseitiger Wertschätzung. Kazim versucht zu vermitteln. Leider kann das Ziel der Mandantin nicht erreicht werden; aber Kazim Erdogan gelingt es Sayima als Rechtsanwältin für den Verein zu gewinnen. Am 1. Januar 2015 wird ihr die Geschäftsführung übertragen.

Die Arbeit im Verein Aufbruch Neukölln e.V. besteht nicht nur aus dem Aufbau und Zusammenhalten der eingangs genannten Gruppen, dem Akquirieren von Förderungsgeldern und Sammeln von Spenden, sondern auch aus der Beratung meist junger Menschen mit türkischen und arabischen Wurzeln, die aus der Jugendvollzugsanstalt oder vom Jugendamt geschickt werden.

Insbesondere bei den Beratungen stößt Sayima an die Grenzen von Recht und Gesetz. „Das Gesetzt hat keine Selbstberechtigung und muss immer wieder hinterfragt werden. Es geht doch um Menschen. Verurteilt man zum Beispiel einen Mann, der eine Straftat begangen hat, zu einer Gefängnisstrafe, so muss man berücksichtigen, dass dadurch seine ganze Familie bestraft wird. Es wäre abzuwägen, ob es das wirklich wert ist.  Alternativen zu bedenken und Dialoge in Gang zu setzen, die Sinn für unsere Gesellschaft haben, sind hier wegweisend. Auch sollte der Fokus stärker auf die Opfer gerichtet sein,“ sagt die mutige Kämpferin, die sich gern in Fälle einmischt, bei denen ihrer Meinung nach die wahre Gerechtigkeit noch gefunden werden muss. „Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen gegenüber meinen beiden Töchtern, die 6 und 9 Jahre alt sind, wenn ich mich vermeintlich gegen ihre Wünsche ausgesprochen habe. Dann nehme ich sie in den Arm und sage ihnen, dass es mir Leid tut, aber ich musste für die gesamte Familie eine Entscheidung finden, eine, mit der alle leben können.“ Für Sayima geht es darum, nicht allein nach den Buchstaben des Gesetzes zu urteilen, sondern im Rahmen von Abwägungen allen Beteiligten gerecht zu werden. Niemandem soll die Chance zur Einsicht und zur Weichenstellung seines Lebensweges genommen werden.

Wenn sich zum Beispiel ein türkischer Mann, der meint, ein reifer Mann zu sein, darüber beschwert, dass seine Frau die Linsensuppe auf unzumutbare Weise mit Fleischklößchen angereichert hat, versucht Sayima ihm klarzumachen, dass seine Frau auch versucht, sich im Rahmen eines Gerichts weiterzuentwickeln. Wenn es nicht schmeckt, kann er das äußern, aber das Schimpfen wird der Kreativität seiner Frau hinderlich sein. Will er denn die Weiterentwicklung seiner Frau begrenzen? Ein klares Nein. Sie versucht ihm den Blick auf das Handeln seines Gegenübers zu öffnen und dadurch eine Versöhnung zu ermöglichen.

„Die Juristerei steht häufig im Widerspruch zur Mitmenschlichkeit“, sagt Sayima. Das Familienrecht sollte beispielsweise bei der Sozialpädagogik untergebracht werden, wo man die „Gefühlswelt“ der Menschen besser versteht. Dass Verfahrensbeistände für Kinder zwar eine juristische Prüfung, aber keine pädagogische Ausbildung nachweisen müssen, führt sie als typisches Beispiel an. Allerdings könne man mit Hilfe der Rechtsprechung vieles ordnen. Sie würde aber humaner sein, wenn auch Rechtsanwälte sich ihrer Machtposition als Sprecher im Verfahren bewusster wären und mehr abwägen oder vermitteln würden.

„Ich bin glücklich in Deutschland zu leben – auch als Juristin – und dankbar dafür, dass es mir so gut geht“, sagt Sayima. „Ich bewundere die klaren Strukturen.“ Früher, in der Türkei, hatte die Familie nicht genug zu essen; die Eltern verloren vier Kinder. Sayima ist Alevitin; sie lebt aber nicht sehr religiös und hinterfragt viel. Die Aleviten üben ihre Religion traditionell eher im Verborgenen aus, weil sie als Freigeister unter den Muslimen im Lauf der Geschichte unterdrückt wurden. Sayimas Drang, den Schwachen zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, erklärt sich wohl auch aus dieser Tradition.

Sie versucht es mit Demut zu tun. Nie würde sie nach einer unentgeltlichen Rechtsberatung sagen: „Ich helfe anderen“ und damit eine „gönnerhafte Position“ einnehmen. Aus ihrer Sicht fühlt sich ein Mensch schlecht, der auf Hilfe angewiesen ist. Bei gönnerhafter Hilfe würde eine Hierarchie entstehen. Sayima wird sich ihm „auf Augenhöhe“ zuwenden, indem sie seine Qualitäten anspricht, ihn in ein Gespräch einbezieht. „Als Gebender muss man auch Nehmender sein können“, meint sie.

Auch zu diesem Thema hat Sayima eine Geschichte parat: Sie kauft sich gelegentlich ein Kebab, immer bei demselben Dönerstand. Und immer gibt sie ein kleines Trinkgeld. Einmal sagt der Verkäufer: „Es ist nicht nötig, dass du jedes Mal mehr bezahlst.“ Sayima antwortet: „Eines Tages werde ich kein Geld bei mir haben. Wirst du mir trotzdem ein Kebab geben?“ „Aber natürlich“, sagt der Verkäufer. Sayima: „Aber ich werde ein anderes Gesicht haben. Machst du es auch dann?“

Ihre psychosoziale Beratungskompetenz schöpft Sayima aus der eigenen Erfahrung. So, wie sie ihr eigenes Verhalten reflektiert, beobachtet sie gern auch andere Menschen. Wie bei einem Familienbesuch in ihrer Wohnung: Ihr Bruder, seine deutsche Frau und das zweijährige Kind sitzen am Wohnzimmertisch. Das Kind, obwohl schon relativ groß, soll von der Mutter gefüttert werden, damit es nicht den Tisch schmutzig macht. Sayima bemerkt den Druck, der sich zwischen Mutter und Kind aufbaut. Plötzlich tatscht das Kind in den Teller, so dass der Brei auf die Tischdecke spritzt. Mutter und Vater lachen. Sayima lacht nicht. Hier geschieht eine Steuerung des Kindes, denkt sie. Was lernt das Kind in diesem Moment? Dass es die Eltern glücklich macht, wenn es beim Essen auf den vollen Teller haut. Später wird sich niemand daran erinnern, warum das Kind es (vermeintlich absichtlich) immer wieder tut.

In den türkischen und arabischen Vätergruppen, die wöchentlich in den Vereinsräumen stattfinden, geht es immer wieder um dieselben Probleme: Ehe, Scheidung, Erziehung, Schule, Sprachförderung, Behörden, Spielsucht u.v.m. Die Gruppen werden von einem Sozialarbeiter geleitet; aber es ist auch immer eine Sozialarbeiterin dabei, damit die Probleme aus männlicher und weiblicher Perspektive betrachtet werden können. Wenn beispielsweise die Anwesenden über die deutsche Verwaltung abschätzig sagen, sie sei mit „Nazis“ besetzt, weil sie sich dort vielleicht nicht ausreichend verständigen können, so lautet für Sayima das Gegenargument: Wenn die Deutschen von euch sagen würden, das sind alles „Türken“, obwohl ihr aus verschiedenen Ländern kommt, würde euch das gefallen? Es geht um Menschen! Alle wollen, dass man sich mit Respekt begegnet!

In den Frauengruppen, wo meistens Mütter zusammenkommen, ist die Problemlage wieder anders. „Die Frauen hatten bewusst entschieden, sich für die Familien zu opfern und nahmen alles hin, um die Familien zu retten, verloren selbst aber alles.“, meint Sayima. „Sie müssen lernen, dass sie die Familien nur dann retten können, wenn sie aufhören Opfer zu sein. Wenn sie kein Opfer mehr sind, kann der andere nicht mehr Täter sein.“ Wenn ein Ehemann zu Gewalttätigkeiten neigt, wird Sayima seiner Frau raten: „Nimm Gewalt schon im Anfangsstadium nicht hin. Hilf ihm in eine Beratungseinrichtung zu gehen und du rettest deinen Mann davor ins Gefängnis zu kommen. Deine Kinder sollen ihren Vater nicht verlieren. Nimm dich wieder als Mensch wahr. Stärke dein Selbstbewusstsein!“ Sayima will den Blick für beide Seiten öffnen, damit die Frauen sehen können, warum die Aggression entsteht.

Der Verein bietet auch Projekte in Schulen und Kitas an, damit Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen, darüber informiert werden können, was in der Schule läuft. Diese Eltern kommen erfahrungsgemäß nicht zu den Elternversammlungen, weil sie sich schämen. Sie werden in ihrer Sprache persönlich eingeladen und von einem Sozialarbeiter über die Schulangelegenheiten in Kenntnis gesetzt. Diese direkte und persönliche Einladung wird, wie unter Türken üblich, in blumiger Bildersprache ausgedrückt, wie: „Mein Herz ist für dich geöffnet...“. Das bloße Verteilen von Flyern, wie unter Deutschen üblich, ist eher zwecklos. Die Türken lesen sie nicht. „Sie schauen einem lieber in die Augen. Dann ist man als Mensch angenommen“, erklärt Sayima.

Zum Abschluss hält Sayima ein Plädoyer für die Notwendigkeit der Kommunikation eines jeden mit jedem. „Die Menschheit hat das Wissen und könnte sich auf die eigene Sprache sowie zusätzlich auf eine weitere Weltsprache verständigen, die weltweit unterrichtet wird“, meint sie. Die eigene Kultur und Landessprache würde erhalten und gepflegt werden. Die Weltsprache (beispielsweise Englisch) könnte durch die lernenden Kinder eine Grundverständigung innerhalb einer Generation erreichen. Wenn Frauen in der Frauengruppe an der deutschen Sprache verzweifeln sagt Sayima, dass jede Sprache mit einer „Jungfrau“ vergleichbar ist. Hast du dich deinem Mann gleich hingegeben? Nein, natürlich nicht. So verhält es sich auch mit der Sprache. Sie braucht Zeit und Zuwendung mit echtem Interesse und dann wird sie sich dir öffnen, weil du sie wertschätzt. „Das Beherrschen der Sprache des Landes, in dem wir leben wollen, in unserem Fall Deutschland, ist für jeden unerlässlich, um zufrieden und sicher leben zu können. Automatisch erfahren wir dann viel mehr über das Land – aber vor allem können wir unsere (deutschen) Mitbewohner viel besser kennenlernen.

Das Fremde wird bekannt.“

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