Freitag, 23. Juni 2017

35. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 15. Juni 2017


Dr. Bernhard Bremberger – Kulturhistoriker

„Erzählen ist eigentlich nicht mein Ding“, sagt Dr. Bernhard Bremberger und packt aus einer großen Tasche Bücher, Schriftstücke, Fotos und andere Objekte aus. „Meistens trage ich nach einem Manuskript vor. Doch für heute habe ich nur Stichworte vorbereitet, und diese Gegenstände sollen meinen Vortrag unterstützen.“ Dann lässt er eine Karikatur aus dem frühen 18. Jahrhundert herumgehen, die einen „Büchernarren“ zeigt in einem Raum mit vollgestellten, wandhohen Bücherregalen.[1] Manche zählen mich auch zu dieser Spezies, meint er ironisch.

Bernhard Bremberger kommt 1953 in Darmstadt zur Welt. Sein Vater ist Postbetriebsinspektor; seine Mutter stammt aus dem Sudetenland und bringt einen Sohn mit in die Ehe, aus der sieben weitere Kinder entspringen. Sie werden katholisch erzogen und wachsen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie wohnt beengt im Obergeschoss eines kleinen Einfamilienhauses, das den Großeltern gehört. „Manchmal war unsere Mutter froh, wenn sie einen Apfel auf alle Kinder aufteilen konnte“, erzählt Bernhard. „Telefon, Fernseher oder gar Auto hatten wir nicht. Und wie und wo kann eine so große Familie gemeinsam Urlaub haben? So gab es für einzelne von uns das eine oder andere Mal eine Fahrt mit einer Jugendgruppe. Und wir sind oft und gerne zusammen in den Wäldern gewandert. Auf Eines achteten unsere Eltern: dass wir alle Abitur machen und eine gute Ausbildung bekommen – und dass wir alle ein Instrument spielen lernen.“

Bernhard erinnert sich, wie er sich als Kind für Tiere interessiert; er liest den „Kleinen Tierfreund“ und hat ein Aquarium und ein Terrarium für Reptilien: Frösche, Lurche und sogar einen Salamander. Als Jugendlicher beteiligt er sich aktiv in katholischen Jugendgruppen und betreut später die Jüngeren auf gemeinsamen Fahrten. Er spielt im Verein Basketball und übernimmt Freiwilligendienste im Krankenhaus. Einmal nascht er als Gymnasiast abends Quark, vermischt mit Nescafé; das hat zur Folge, dass er nachts nicht schlafen kann. So greift er sich sein Chemiebuch und studiert es Seite für Seite. Chemie wird sein Lieblingsfach, und alle Zeichen deuten auf ein späteres naturwissenschaftliches Studium hin.

1972 beginnt Bernhard mit einem Medizinstudium in Berlin. Den Studienplatz hat ihm die ZVS (Zentrale Vergabe für Studienplätze) zugewiesen. Das Studium ist sehr verschult: Allein im ersten Semester sind gut 15 Veranstaltungen zu bewältigen, wie Anatomie, Chemie, Physik, Physiologie etc. Die rein naturwissenschaftliche Ausbildung behagt Bernhard nicht. Er wünscht sich eine Medizin, die nicht in der Interpretation mathematischer Kurven besteht, die vielmehr den Menschen im Mittelpunkt hat. Außerdem lernt er junge Ärzte kennen, die schon nach zwei, drei Jahren im Beruf völlig ausgelaugt sind. So soll sein künftiges Berufsleben nicht verlaufen; er hat doch noch andere Interessen. Nach dem Vorphysikum bricht er das Medizinstudium ab. Viele Jahre meidet er die Gegend um die Freie Universität. Doch findet er später den Bogen zur Medizin zurück: Jetzt arbeitet er über die Gesundheitsversorgung von Zwangsarbeitern in der NS-Zeit und veröffentlicht dazu. Gerade erschien ein Aufsatz, der seine Forschungen dazu zusammenfasst.[2]

Noch in der Schulzeit lernt er bei einem Nachbarn Gitarre, so richtig „nach Noten zupfen“. Ihn begeistern die frühen Balladen der Bee Gees und der Lords. Daneben hört er die Musik der amerikanischen Folk- und Antikriegsbewegung mit Sängern wie Bob Dylan und Joan Baez. In Berlin sucht er Gleichgesinnte zum gemeinsamen Musizieren. Sie singen amerikanische und englisch-irische Folklore, Protestlieder gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Heute findet er, dass das politische Bewusstsein, das in den hier gesungenen anglo-amerikanischen Folksongs zum Ausdruck kam, eher von einem Gerechtigkeits- und Solidaritätsgefühl bestimmt war – weit weg von hiesigen konkreten politischen Auseinandersetzungen. Früher, in der Schule, wurde Bernhard als „Brummer“ mit den Worten: „Du kannst nicht singen“ aus dem Chor entlassen. Nun hat er Lieder für sich entdeckt, bald auch deutschsprachige. Dies ist Anfang der Siebziger Jahre neu, dass deutsche Volkslieder nicht nur reaktionär-konservativ verwendet werden oder einfach harmlos sind wie Schlager, sondern fundierte Inhalte haben können; oft drücken sie Protest, Unmut und Widerstand aus. Er sucht nach weiteren solchen Liedern und forscht nach interessanten Texten. Dabei entdeckt er Heinrich Heine, der zu seinem Lieblingsdichter wird. Mit seinen Kollegen vertont er ausgewählte Gedichte, sie üben neue Lieder ein oder treffen sich spontan zur Straßenmusik – im Duo oder in einer größeren Gruppe. Sie begleiten sich mit Gitarren und anderen Zupfinstrumenten, Flöten, einer Drehleier, einem flämischen und einem böhmischen Dudelsack, Perkussion. Mit alten Autos – R 4 oder VW-Bus - reisen sie manchmal für einige Wochen in verschiedene Städte Westdeutschlands, treten auf der Straße auf und können dann sogar von dem eingesammelten Geld leben. Dass diese Aktivitäten seinen Eltern wohl nicht behagen, spürt Bernhard.

„Wir dachten damals, jeder sei ein Künstler, jeder könne alles. Tatsächlich haben wir vieles selber gemacht“, erzählt Bernhard und führt ein selbstgebautes Zupfinstrument, eine Zither, einen Dulcimer vor. „Ich gebe es zu, es war ein Bausatz. Aber danach habe ich noch ein ganze Reihe selbst hergestellt.“ Natürlich werden auch die Autos eigenhändig repariert. „Es waren Schrottmühlen, aber wir hatten nicht genug Geld für Werkstätten.“ Wenn die Freunde nicht weiter wissen, schlagen sie in Ratgeberbüchern nach. Dort ist beschrieben, wie ein Motor repariert werden kann. Und an einen besonders klugen Ratschlag erinnert sich Bernhard noch genau: Wenn dein VW-Bus ein Panne hat, setz dich erst hin und trinke einen Tee...

Nicht immer bereiten die Auftritte nur Freude. Am Kranzler-Eck in Berlin will ein Polizist den Gesang verbieten: Die Musiker hätten vier Genehmigungen gebraucht, etwa vom Gewerbeamt, vom Tiefbauamt oder vom Senat für Umweltschutz. Die Musiker mit ihren leisen akustischen Instrumenten sind längst nicht so laut wie die umherfahrenden Autos an der Kreuzung, und im Weg stehen sie auch nicht. Also spielen sie pantomimisch weiter, indem sie so tun, also ob sie Musik machen würden und haben einen Heidenspaß dabei, etwa stumm fünfstimmige Gesänge für zwei Musiker zu improvisieren. „Es ist skurril, mit welchen Vorgaben unsere Auftritte verhindert werden sollten“, meint Bernhard noch heute amüsiert. Unter dem Straßburger Münster, zum Beispiel, darf die Gruppe ebenfalls nicht stehen. Sie umgeht das Verbot, indem sie musizierend um den benachbarten Brunnen spaziert. Bernhard findet es spannend zu erleben, wie man auf legalem Weg solche Verbote umgehen kann.

Verbotene Musik, das hat Bernhard schon früh erfahren, ist auch in anderen Ländern ein Thema: Schon 1968 bekommt er mit, dass Joan Manuel Serrat, der Sänger des spanischen Grand-Prix-Eurovision-Beitrags nicht auftreten und durch eine Sängerin ersetzt wurde, weil er katalanisch sang. Er weiß, dass Wolf Biermanns Lieder in der DDR unterdrückt sind, die Musik von Mikis Theodorakis verboten und der Komponist selbst in ein winziges Dorf verbannt wurde. Und nun erlebt er selbst die Grenzen des Erlaubten in der Musik.

Nach Jahren will Bernhard sein Interesse an der Musik mit einem neuen Studium verbinden. Das Geld zum Leben verdient er sich jetzt als Taxifahrer. Seit 1979 wohnt er in Neukölln. Er studiert Musikethnologie, um mehr über die hiesige traditionelle Volkmusik zu erfahren. Dabei lernt er auch die Musik außereuropäischer Kulturen kennen. Zunächst gibt es Feldforschungsprojekte in Berlin, etwa über den Tegeler Tamburaschenchor. Das ist ein Ensemble mit aus Jugoslawien stammenden Zupfinstrumenten; im frühen 20. Jahrhundert wurden sie in Berlin in großen Orchestern gespielt.[3] Er forscht zur politischen Musik aus der Türkei, zu sozialkritischen und zu kurdischen Liedern. Auch damals wurden kritische Äußerungen in der Türkei verfolgt, Künstler mussten Strafen bis zum Gefängnis befürchten und konnten sich oft nur im Exil äußern. Er schreibt über die Berliner türkische Musikgruppe Yabanel (Der Name bedeutet so viel wie „fremdes Land“).[4] Bei einer Exkursion in die Schweiz erforschen die Studenten den Betruf auf dem Urnerboden. Dort leben im Sommer die Älpler auf den „Stafeln“ genannten Alphütten, hüten das Vieh und stellen Käse her. Zum Abschluss des Tages rufen sie durch einen Milchtrichter einen traditionellen „Alpsegen“ – auf jeder Stafel etwas anders. Bei diesem „Betruf“ schicken die Menschen ihre Gebete mit einer eigenen Melodie gen Himmel und informieren gleichzeitig die weit weg wohnenden Nachbarn darüber, dass sie ihr Tagwerk gut vollbracht haben.[5]

Sein Hauptthema ist jedoch die Geschichte des Liederbuchs „Student für Europa“. In den Siebziger Jahren war dies eine der besten und beliebtesten Liedersammlungen, die auch oft von Lehrern im Unterricht genutzt wurde. Bernhard schreibt seine Magisterarbeit über die Entstehung und Geschichte dieser Liederbuchreihe.[6] Doch weil darin auch politische Lieder enthalten sind, gab es häufig Skandale, und die Lehrer mussten um ihre Existenz fürchten. Bernhard sammelt seit vielen Jahren Informationen zu „verbotener Musik“ und schreibt seine Dissertation später in Bamberg über das Thema Musikzensur.[7] Ihm wird angedeutet, mit so einem engagierten Thema habe er wohl in der Musikethnologie kaum berufliche Chancen.

Nach dem Studium bekommt Bernhard eine Arbeit beim „Internationalen Institut für Vergleichende Musikstudien und Dokumentation“ am Bahnhof Grunewald. Seine Aufgabe ist es, die in Berlin ansässigen internationalen Musikgruppen zu dokumentieren und Porträts von den Musikern und Tänzern zu erstellen. Für Radio 100, den ersten privaten Hörfunksender mit links-alternativer Ausrichtung in West-Berlin, stellt er zum Thema „Klänge der Welt“ eine Sendung zusammen. Auf die in Aussicht gestellte Bezahlung wartet er vergebens. „Damit beginnt etwas, das ich später noch so oft erleben werde: die Selbstausbeutung“.

Die folgenden zehn Jahre ist Bernhard arbeitslos. Aber die Hände legt er nicht in den Schoß. Er unterstützt Sema – die Sängerin der Gruppe Yabanel, mit der er Mitte der Achtziger Jahre eine Zeit lang liiert war und danach weiterhin in Freundschaft verbunden ist – bei ihrer Karriere und managt ihre Konzerte. Für die Büchersammlung der Brüder Grimm in der Hauptbibliothek der Humboldt-Universität organisiert er ehrenamtlich Buchpatenschaften, damit einzelne kostbare Bände mit den handschriftlichen Notizen dieses großartigen Geschwisterpaars restauriert werden können.[8] Auf seine fachlichen Schwerpunkte als Musikwissenschaftler und Turkuloge zurückkommend entwickelt er Seminarthemen über das Türkenbild in der europäischen Musik, die er der Freien Universität Berlin anbietet. Ausgehend von Mozarts „Rondo alla turca“ und „Entführung aus dem Serail“ präsentiert er Musik- und Theaterstücke, Literatur und Reiseberichte in mehrsemestrigen Seminarzyklen. „Übrigens woher kommt der Begriff ‚getürkt’?“ fragt Bernhard und erklärt, dass Ende des 18. Jahrhunderts der türkische Schriftsteller Ali Aziz Efendi von den Osmanen als Botschafter nach Berlin geschickt worden war. 1798 verstarb er und wurde vor den Toren der Stadt im heutigen Bereich der Urbanstraße beigesetzt. Auf diesem Gelände fanden militärische Übungen statt. Täuschungsmanöver wurden in der Nähe des Grabes geprobt, und daher sagten die Soldaten dazu: „den Türken machen“, woraus sich „einen Türken bauen“ und das Verb „türken“ entwickelten.

Bei einem Gespräch mit seiner Schwester, die in der Altenpflege biografisch arbeitet, wird er nach seinem Lieblingsmärchen gefragt. Ihm fallen die Karl-May-Bände seines großen Bruders ein, die er nachts unter der Bettdecke verschlang und die ja eigentlich auch Märchen sind. Im Kommunionunterricht wollte der Pfarrer wissen, was die Kinder einmal werden wollen. Bernhard antwortete: „Cowboy“. Karl May ist berühmt für seine Indianergeschichten, doch mehr als über den Wilden Westen hatte May – eigentlich ein Heimatschriftsteller, der seine Dorfgeschichten in exotische Welten verlegte – über den Orient geschrieben. Im ersten Satz von Winnetou I hatte er den Orient als seinen Bezugspunkt genannt: "Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein."[9]

Einmal entdeckt Bernhard eine alte Zeichnung mit einer Pflanze, die menschliche Züge trägt. Es ist eine Alraune. Bernhard wird neugierig und beginnt mit Hilfe seines jüngeren Bruders, der Biologe ist, über Alraunen zu forschen. Es handelt sich um giftige Heil- und Ritualpflanzen, die seit der Antike als Zaubermittel gelten. In kürzester Zeit häuft sich das gesammelte Material. Die Abbildungen ordnet Bernhard zu einer ikonographischen Arbeit und stellt sie für eine Buchveröffentlichung fertig. Leider findet sich kein Verlag. Aber das Material liegt vor und könnte zum Beispiel jederzeit für eine Ausstellung verwendet werden. Trotzdem bringt ihm die Pflanze Glück. Bei einem Job in einem Buchladen lernt er seine spätere Lebensgefährtin kennen; sie heißt Alraune.

Endlich, im Jahr 1998, bekommt Bernhard eine auf zwei Jahre befristete ABM-Stelle beim Museum Neukölln. Er arbeitet mit bei den Vorbereitungen der Ausstellung zur Hundertjahrfeier der Stadt Rixdorf: „Vom Dorf zur Stadt“. So steigt er in die Lokalforschung ein. Bei den Zeitungsrecherchen fällt ihm ein Artikel aus dem Jahr 1899 in die Hände, der sich mit Rixdorf im Jahr 2000 befasst. Was die Menschen sich damals vorstellten! Bernhard schreibt darüber einen Aufsatz und trägt so dazu bei, dass diese utopischen Vorstellungen auf der Bühne des Saalbaus thematisiert werden.[10]

Bei der nächsten geplanten Museums-Ausstellung für das Jahr 2000 geht es um das Thema Geburt: „Der erste Schrei oder wie man in Neukölln zur Welt kommt“. Bernhard bearbeitet den Zeitabschnitt „Drittes Reich“ und befasst sich mit der Landesfrauenklinik am Mariendorfer Weg.[11] Dort befand sich die Hebammenlehranstalt, die zentral für das gesamte Deutsche Reich zuständig war. Eine der Hauptfragestellungen richtet sich auf die Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Angesichts der um das Jahr 2000 aktuellen Diskussion um Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter ein brisantes Thema, zu dem er zunächst kaum Hinweise findet, bis er sich an das Standesamt wendet. Dort erhält er die Genehmigung in den Geburts- und Sterbebüchern zu recherchieren. Er findet heraus, dass allein im Juli 1944 jedes fünfte in Neukölln geborene Baby das Kind einer Zwangsarbeiterin war. Im gesamten Jahr 1944 war es jedes zehnte Kind. Außerdem entdeckt er zahlreiche Hinweise auf Lager in Neukölln, die noch nicht bekannt sind. Bernhard weiß, dass Zwangsarbeit in Neukölln verleugnet wird. Andererseits ist es bekannt, dass es im Deutschen Reich während des Krieges zwölf Millionen Zwangsarbeiter gegeben hat, davon acht Millionen Zivilisten aus den besetzten Gebieten. In Berlin gab es über eine Millionen Zwangsarbeiter, davon vielleicht zehn Prozent in Neukölln. Einige wenige Firmen haben die Geschichte aufgearbeitet. Die meisten schotten sich ab.

Eines Tages fragt eine Journalistin im Museum nach, ob etwas über Zwangsarbeit auf einem der kirchlichen Friedhöfe an der Herrmannstraße bekannt sei. Sie recherchiere in der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde (Kreuzberg), habe aber das Gefühl es werde gemauert. Das Museum weiß nichts, aber Bernhard erinnert sich an ein Sterbedokument eines 33jährigen Ukrainers mit der Wohnadresse Herrmannstraße 84–90. Dort liegt ein Friedhof, auf dem muss sich also ein Zwangsarbeiterlager befunden haben. Dies war bereits in einer kirchlichen Chronik erwähnt worden war – folgenlos selbstverständlich. Bernhard findet heraus, dass auch in den Bauakten ein ausführlicher Schriftverkehr zum Bau dieser Baracken vorliegt. Er informiert die Journalistin, die in einer Rundfunksendung Wolfgang Huber, den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg damit konfrontiert. Dieser verspricht das Thema aufzuarbeiten und richtet eine Arbeitsgruppe ein. In einem Pavillon auf dem Thomasfriedhof sind die Ergebnisse ausgestellt. Rund dreißig Berliner Kirchengemeinden hatten gemeinsam dieses Zwangsarbeiterlager betrieben. Dem Rechercheteam ist es gelungen, einige der osteuropäischen Zwangsarbeiter aus diesem Lager ausfindig zu machen, deren Geschichte sie erzählen und sogar ein Tagebuch zu finden und zu veröffentlichen.[12] Außerdem haben die betroffenen Gemeinden einen Gedenkstein errichtet.

Mitte 2000 beschäftigt sich auch der Tagesspiegel mit diesem Thema und veröffentlicht eine Befragung einzelner Firmen, ob es bei ihnen Zwangsarbeit gegeben hat. Die Firma Eternit verneint beispielweise. Doch Bernhard kann das Gegenteil beweisen. Aus seinen zusammengestellten Standesamtsunterlagen geht hervor, dass sich in der Rudower Kanalstraße 117-155, dem Eternit-Standort, ein Zwangsarbeiterlager befunden haben muss. Darüber schreibt Bernhard einen Artikel, den er vor der Veröffentlichung dem Museum und auch dem Standesamt zur Freigabe vorlegt. Das Standesamt informiert die Rathausspitze. Zurück kommt ein strenges Nein; Eternit war immerhin ein wichtiger Arbeitgeber in Neukölln. Aber für eine Ausstellung im Museum darf Bernhard einige Dokumente verwenden. Sie zeigen die Geburtsdaten von Kindern, deren Mütter im Eternit-Zwangsarbeiterlager gewohnt haben. Bernhard fährt in Urlaub, und nach seiner Rückkehr erhält vom Standesamt die Nachricht, dass er nicht mehr dort recherchieren dürfe. Besonders motiviert durch das Verbot vom Bürgermeister erarbeitet Bernhard nach Ablauf seines Arbeitsvertrags eine Homepage (www.zwangsarbeit-forschung.de), auf der er die ihm bekannten Lageradressen veröffentlicht. Der Bezirksbürgermeister und das Standesamt können die Informationen nicht mehr stoppen. Er erhält Anfragen aus aller Welt.

Noch während seiner Museumsarbeit hatte Bernhard die Erfahrung gemacht, dass ein Austausch mit anderen Experten im In- und Ausland sehr zeitaufwendig ist. Bei einer Tagung im Januar 2001 im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt kamen 70 Fachleute zusammen. Dort stellt Bernhard ein Kommunikationsmittel vor, welches den fachlichen Austausch revolutionierte: Die internationale Mailing-Liste NS-Zwangsarbeit moderiert Bernhard bis heute und investiert anfangs jeden Tag etwa eine Stunde in dieses Projekt, jetzt deutlich weniger.[13]

Im Jahr 2001, „das ein einschneidendes Jahr für mich sein wird“, endet Bernhards Vertrag mit dem Museum. Bei der gerade beim Berliner Senat eingerichteten „Koordinierungsstelle für die Auskunftsersuchen von Zwangsarbeitern“ wird ihm eine neue Stelle im Rahmen eines Fünfjahresvertrags angeboten. Seine Aufgabe ist es für ehemalige Zwangsarbeiter, die eine Entschädigung beantragen, den Nachweis zu führen, wo und wann sie tatsächlich eingesetzt waren. Bei den Recherchen hat er freie Hand. Nach knapp zwei Monaten bremst im Mai 2001 ein Schlaganfall diese Arbeit. Bernhard braucht viele Monate, bis er sich davon einigermaßen erholt. Mit seinen verbliebenen Kräften arbeitet Bernhard an der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle weiter. Er forscht zum Beispiel in den Reviertagebüchern der Berliner Polizei, die sich in der Polizeihistorischen Sammlung befinden. Oder sucht in Berliner Krankenhäusern nach Dokumenten, welche den Aufenthalt von Zwangsarbeitern nachweisen. Im Wintersemester 2002/3 führt er mit zwei Kollegen im Reformstudiengang Medizin an der Charité ein Seminar über Zwangsarbeit im Berliner Gesundheitswesen durch. Dann verfasst er zusammen mit einem Medizin- und einem Lokalhistoriker einen Aufsatz über das bislang unbekannte Ausländerkrankenhaus in Mahlow für schwerstkranke Zwangsarbeiter.[14] Eines Tages meldet sich eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die bei einer Firma namens „Sorotti“ Röhren produziert hatte. In Tempelhof gab es die Schweizer Schokoladenfabrik Sarotti. Bernhard telefoniert mit der für diesen Standort nun zuständigen Nestle-Zentrale in Frankfurt. Dort gibt man unumwunden zu, dass Sarotti in Berlin Zwangsarbeiter beschäftigt hat und erlaubt sogar das Archiv in Tempelhof aufzusuchen um Nachweise für ausländische Zwangsarbeiter zu finden. Aus der Arbeit in der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle entsteht später ein Buch.[15]

Noch heute spürt er Beeinträchtigungen durch den Schlaganfall. Doch das Thema Zwangsarbeit lässt ihn nicht mehr los. So forscht er mehrfach beim Internationalen Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, der im Auftrag der Alliierten nach dem Krieg alle Informationen über Zwangsarbeit gesammelt hatte. Einige Jahre lang zeigte sich der Suchdienst, der sich erst 2007 – nach dem Ende der „Nachweissuche“ - für die Forschung geöffnet hatte, wenig kooperativ und behindert die Arbeit. Bernhard geht an die Öffentlichkeit und erhält Unterstützung von vielen Seiten. Nach einem aufreibenden Dreivierteljahr kann er endlich die Kopien aller Listen, die er im Auftrag des Neuköllner Kulturamtes recherchiert hatte, in seinen Händen halten.[16]

Anfang 2001 hatte Bernhard schon einmal eine Liste mit Kreuzberger Zwangsarbeiterlagern aus Arolsen geholt. 365 Lager sind dort für diesen kleinen Bezirk genannt. Die von Rainer Kubatzki zusammengestellte „Bibel“ der Berliner Zwangsarbeiterlager nennt 1.044 Lager innerhalb der Stadtgrenzen,[17] davon 29 für Kreuzberg. Daraus schließt Bernhard, dass es in Berlin viel mehr Lager gegeben haben muss, als bisher bekannt ist, „etwa eine fünfstellige Zahl“.

Er ist aktiver denn je. 2013 wertet er in einer sechswöchigen Kur umfangreiche Unterlagen aus Arolsen aus. „Diese Zeit zahlt einem ja doch keiner“, meint Bernhard. Er recherchiert zu verschiedenen Stadtteilen, hält regelmäßig Vorträge, verfasst Aufsätze und Artikel (so etwa seit fünf Jahren eine Serie zu Zwangsarbeit im Rudower Magazin). Als 2012 der Neuköllner Antifaschist Werner Gutsche stirbt, den Bernhard im Museum oft getroffen und sehr geschätzt hat, ruft er dessen Wegbegleiter zusammen, um ihm zur Erinnerung ein Buch zu veröffentlichen.[18] Gerade schließt er ein Forschungsprojekt über die Ermordung kranker Zwangsarbeiter in Heil- und Pflegeanstalten ab und hat eine Menge Ideen, die er noch umsetzen möchte.

Und das Fazit? „Musik, Bilder und Bücher und die Beschäftigung mit anderen Kulturen  spielten in meinem Leben eine große Rolle. Ich war immer neugierig, deshalb interessierte mich die Geschichte, gleichzeitig aber auch das Neue. Vieles habe ich selbst erarbeitet, aus Eigeninitiative. Von meinen Arbeiten konnten viele profitieren, sei es, dass sie meine Rundfunksendungen genießen konnten oder dass meine Artikel und Bücher für sie interessant waren. Vielleicht haben sie mehr erfahren über die Geschichte des Ortes, an dem sie leben. Wenn man mich fragt, was ich davon habe, dann bleibt mir oft nicht mehr als ironisch zu antworten: 'Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit'. Also nichts Materielles. Aber ich habe Alraune. Sie gibt mir die Kraft für neue Projekte.“




[1] Johann Christoph Weigel: Centi-Folium Stultorum in Quarto: Oder Hundert Ausbuendige Narren; Nürnberg (1709); siehe dazu https://issuu.com/pauser/docs/pauservm6220093.
[2] BB: „Es wird geprüft werden, ob sich unter den polnischen Arbeitern Personen befinden, die zur Krankenpflege geeignet sind.“ Zur Pflege in Berliner Ausländerkrankenhäusern 1940-1945; S. 87-113 in: Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte (30) 2017.
[3] BB / Eberhard Dietrich: Der Tambouraschenchor ‘Wellebit 1902’; S. 132-142 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musikalische Streiflichter einer Großstadt; (Berlin) 1979.
[4] BB: Aspekte politischer Musik aus der Türkei; S. 198-217 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musik der Türken in Deutschland; (Kassel) 1985.
[5] BB / Stefanie Döll: Der Betruf auf dem Urnerboden (Schweiz) im Umfeld von Geschichte, Inhalt und Funktion; S. 65-96 in: Jahrbuch für Volksliedforschung XXIX; (Freiburg) 1984.
[6] BB: Die Liederbücher des Student für Europa e. V. – Zur Genese und Geschichte einer Liederbuchfamilie; unveröffentlichte Magisterarbeit FU Berlin 1984.
[7] BB: Musikzensur – Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik. Die Auseinandersetzungen um die ‘Student-für-Europa’-Liederbücher; (Diss. Bamberg 1988; Berlin: Verlag Schmengler) 1990.
[8] BB: Buchpatenschaften – Märchen- und Sagenbücher aus der Grimm-Bibliothek der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin; 52 S., 1998.
BB / Elke Barbara Peschke: Grimm-Bibliothek. Zwischenbilanz; S. 2 in: News-Letter (Humboldt-Universitäts-Gesellschaft), II, 12/1998 (http://www.hu-berlin.de/hug/aktuelles/newsletter/news_0398/gdff-5_html).
[9] Esther Spicker: Bücher für die einsame Insel und andere Gelegenheiten; S. 75-80 in: Udo Gößwald (Hg.): Die Magie des Lesens; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Museums Neukölln vom 13. Mai  bis30. Dezember 2016 (Berlin).
[10] BB: „Rixdorf im Jahre 2000“. Eine futuristische Lokal-Komödie aus dem Jahre 1899; S. 26-33 in: Berlinische Monatsschrift VIII/12, Dezember 1999 (http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt99/9912proe.htm).
[11] BB: “Die kinderreiche, erbgesunde, rassisch wertvolle deutsche Familie - der einzige Wegweiser der deutschen Hebamme.“ Die Brandenburgische Landesfrauenklinik in Neukölln unter der Leitung von Prof. Benno Ottow (1933-1945); S. 24-28 in: Der erste Schrei oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt; Begleitband zur Ausstellung des Heimatmuseums Berlin-Neukölln vom 13. Mai 2000 - 1. April 2001 (Berlin).
[12] Wolfgang G. Krogel (Hg.): Bist Du Bandit? Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko; (Berlin) 2005.
[13] BB: Die internationale Mailing Liste NS-Zwangsarbeit; (Hamburg, Museum der Arbeit, Tagung Geteiltes Gedächtnis? Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit im Europa des 21. Jahrhunderts) 2016 [https://www2.hu-berlin.de/forcedlabour/bernhard-bremberger-berlin/].
[14] BB / Frank Hummeltenberg / Manfred Stürzbecher: Das „Ausländerkrankenhaus der Reichshauptstadt Berlin“ in Mahlow; S. 221-273 in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger / BB (Hg.): Der „Ausländereinsatz“ im Gesundheitswesen (1939-1945). Historische und ethische Probleme der NS-Medizin; (Stuttgart) 2009.
[15] BB / Cord Pagenstecher / Gisela Wenzel (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin. Archivrecherchen, Nachweissuche und Entschädigung; (Berlin: Metropol) 2008.
[16] Martin Otto: Das Auswärtige Amt kann nichts ausrichten. Beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen sind Akten zu allen KZ-Häftlingen gesammelt. Das Archiv steht der Forschung offen, aber der völkerrechtliche Sonderstatus erzeugt bürokratische Hindernisse; (Frankfurter Allgemeine Zeitung 9.8.2011); ders.: Der Arolser Kopierfriede. Seit 1946 sammelt der Internationale Suchdienst Akten zu den Opfern von Hitlers Vernichtungspolitik. Jetzt wird aus dem ITS ein Forschungszentrum. Das Bundesarchiv ersetzt das Rote Kreuz; (Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.12.2011).
[17] Rainer Kubatzki: Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager. Standorte und Topographie in Berlin und im brandenburgischen Umland 1939 bis 1945. Eine Dokumentation; (= Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin 1), Berlin (Berlin-Verlag) 2001.
[18] BB / Matthias Heisig / Frieder Böhne: „Da müsst ihr euch ’mal drum kümmern“. Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln. Spuren, Erinnerungen, Anregungen; (Berlin: Metropol) 2016.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen