Samstag, 16. April 2016

11. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 17. März 2016

Im Körnerkiez findet man an vielen Stellen die Kärtchen mit der Aufschrift: „Herr Steinle zeigt Neukölln“. Das macht neugierig (soll es ja auch). Herrn Steinle konnte ich einmal beobachten. Ich sah, wie er im Körnerpark, mit Schiebermütze und Sakko bekleidet, aus seiner Aktentasche eine riesige rote Plastik-Gerbera herauszieht und sie hoch hält, um seine Neukölln-Besucher um sich zu scharen. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auch schwäbisch sprechen hören konnte, doch das weiß hier jeder, dass der Herr Steinle aus Schwaben kommt.

Reinhold Steinle muss es sich noch einmal überlegen, ob er beim Erzählcafé auftreten will. Doch dann sagt er zu -  unter einer Bedingung: über sich persönlich wird er nichts zum Besten geben.

Ein wenig wird er doch aus dem Nähkästchen plaudern, der Herr Steinle. Natürlich sprechen wir ihn auf seine schwäbische Herkunft an. Die Frage scheint ihm zum Halse herauszuhängen. Doch sehr bald wird deutlich, dass er aus der Not eine Tugend macht,  seine Herkunft zu seinem Markenzeichen stilisiert und sich außerdem zu einem „echten“ Neuköllner entwickelt hat.


Reinhold Steinle, Stadtführer Neukölln

Reinhold Steinle kommt vom Land, seine Eltern sind Bauern. Er wächst in Ilsfeld, Kreis Heilbronn, auf. Zu Berlin hat er noch keinen Bezug, trotzdem spielt Berlin (West) in Ilsfeld eine gewisse Rolle. Nämlich immer dann, wenn wieder ein junger Mann verschwunden ist. „Der ist nach Berlin gegangen“, sagen die Leute und dann sagen sie nichts mehr.  Sie interessieren sich nicht mehr dafür. Der junge Mann wird totgeschwiegen. Selbst der Spross des Bürgermeisters wird auf diese Weise vergessen.

Ein berühmter Sohn der Stadt ist Lothar Späth, der jetzt leider sehr krank ist. Reinholds Tante ging mit ihm in eine Klasse.  Sein Vater war der angesehene Chef vom Raiffeisenhaus. In seiner Jugend poussierte er mit einer reichen Müllerstochter. Die beiden wollten heiraten. Aber der Vater der Müllerstochter intervenierte: „Aus dem wird nichts.“ Als Späth dann Ministerpräsident wurde, konnte man ihn während einer Radiosendung anrufen. Das tat die Müllerstochter, und sie gratulierte ihm.

Mit 14 Jahren darf Reinhold allein nach Berlin (West) zur Funkausstellung fahren. Er nimmt den Reisebus, und sein Vater gibt ihm die erforderliche schriftliche Erlaubnis mit. Im Sommergarten am Funkturm erlebt er bei einer Live-Fernsehübertragung Hans Rosenthal, den er wegen seiner Sendung „Dalli-Dalli“ bewundert. Hans Rosenthal strahlt und brilliert. Dann werden die Kameras ausgestellt. Plötzlich ist Hans Rosenthal wie verwandelt. Er flucht, schimpft mit Kameramann und Tontechniker und nimmt keine Rücksicht auf das anwesende Publikum. Erneut auf Sendung wird das Schmierentheater fortgesetzt. Reinhold ist bitter enttäuscht: „Der ist ja nur nett und lustig, wenn die Kameras laufen!“ Auf der Funkausstellung  erblickt Reinhold auch Thomas Gottschalk, der damals noch ganz lange Haare hat. Doch der Clou des Ausflugs  nach Berlin ist ein Wortwechsel zwischen zwei etwa 10jährigen Steppkes, den Reinhard zufällig mithört: Fragt der eine: „Biste ooch een Berliner?“ Sagt der andere: „Klar, ick bin aus Neukölln!“

Obwohl diese Reise schon so lange her ist, hat Reinhold dieses „Schlüsselerlebnis“, wie er meint, nie vergessen. Eine andere einschneidende Erfahrung ist ein Besuch der Comburg nahe Schwäbisch Hall. Das ist eine Klosteranlage aus der Zeit der Benediktiner. In der Mitte befindet sich die barocke Stiftskirche St. Nikolaus, in der ein seltener romanischer Radleuchter hängt. Dieser stammt aus der Vorgängerkirche und interessiert Reinhold besonders. Reinhold und seine Begleiterin buchen eine Führung bei dem Besitzer des benachbarten Cafés, dem der Kirchenschlüssel anvertraut wurde. Dessen leiernder Vortrag ist derart lieblos und langweilig, dass sich Reinhold schwört: Sollte ich jemals eine Führung machen, dann niemals in einer solchen Art und Weise. Ich werde immer meine Emotionen mit einflechten.

Man muss vorsichtig sein, solche Wünsche auszusprechen, denn sie könnten ja in Erfüllung gehen, meint Reinhold Steinle und erzählt, dass er vor 20 Jahren nach Neukölln kam und eine Wohnung in der Schillerpromenade bezog. Unter ihm wohnt ein Mann mit einem unberechenbaren Lebenswandel und Begeisterung für Techno-Musik. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit lässt er seine Musikanlage laufen; so laut, dass Reinhold über ihm fast aus dem Bett fällt. Sechs Monate lang hält er es über dem aggressiven Mitbewohner aus. 2005 wirft er das Handtuch und zieht aus, nachdem er eine Wohnung in einem anderen Bezirk gefunden hat. Der Liebe zu Neukölln tut das keinen Abbruch.

Ein Jahr vor dem Auszug spricht ihn eine befreundete Künstlerin an, ob er nicht im Rahmen von „48 Stunden Neukölln“ eine Führung durch die beteiligten Galerien machen könnte. Eigentlich habe ich ja keine Ahnung, meint Reinhold und sagt trotzdem zu. Er informiert sich und erklärt dann einer Gruppe von fünf Besuchern, was sich die Künstler bei ihren Werken so gedacht haben und was er selbst dabei empfindet. Daraus entspinnt sich ein anregendes Gespräch in der Gruppe.  Jeder gibt einen Kommentar ab. Reinhold ist begeistert und spürt, dass er hier eine Begabung hat.

2008 beginnt er mit seinen Stadtführungen. Sein erstes Ziel ist der Richardkiez. Er verbringt viele Tage im Museum Neukölln, liest Bücher, Zeitschriften, spricht mit Leuten und häuft allmählich sein Wissen an. An der Historie eines Gebietes oder Hauses ist er immer interessiert. Daten und Fakten sind das Eine; das Andere, und  seiner Meinung nach viel Wichtigere, sind die Geschichten. Sie transportieren das Wissen und die Emotionen, so dass man sie besser im Gedächtnis behalten kann. Seine Führungen macht Reinhold auf Deutsch. An fremde Sprachen wagt er sich nicht. Einmal hat er Portugiesisch-Unterricht genommen, doch wenn er portugiesisch sprechen will, lachen die Leute über seine Aussprache.

2008 geht es also los. In der Berliner Woche erscheint ein einführender Artikel über Steinles künftige Stadtführungen, wo auch der erste Treffpunkt angegeben ist: die Villa Rixdorf. Niemand erscheint. Auch nicht am zweiten Termin. Beim dritten Termin findet sich ein älteres Neuköllner Ehepaar ein, das  erleben möchten, wie „der Schwabe“ die Führungen macht.

Werbung macht Reinhold Steinle mit seinen Karten, die er überall hinterlegt. Wie ein Kater „markiert“ er seinen Wirkungsradius. Einmal befindet er sich auf einer privaten Wanderung in Golm/Brandenburg, wo er in einem entlegenen Café ebenfalls ein paar Kärtchen auslegt. Diese werden ein paar Tage später von einem leitenden Mitarbeiter der Neuköllner Wirtschaftsförderung auf einer Radtour entdeckt. Beim nächsten Zusammentreffen in Neukölln ist dieser des Lobes voll angesichts der „hervorragenden PR-Maschinerie“.

Anfangs kommen Menschen aus den verschiedensten Bezirken zu Reinholds Führungen; die Nord-Neuköllner sind noch in der Minderheit. In den letzten beiden Jahren interessieren sich zunehmend Bewohner aus dem südlichen Neukölln für ihren Bezirk. Auch Touristen mehren sich, und Reinhold befürchtet, dass es eines Tages zu viele werden. Denn das kann das Zeichen einer bevorstehenden Aufwertung des Viertels bedeuten. Dann steigt die Nachfrage nach Wohnraum, alles wird teurer und die angestammten Mieter können hier nicht mehr wohnen bleiben. Im Körnerkiez können die Menschen noch immer ihre Miete bezahlen. Es gibt auch noch Bäcker, wo der Café 70 Cent oder 1 Euro kostet, nicht 2,10 Euro, wie im Reuterkiez. Neulich hat Reinhold dort 2,50 Euro für einen lauwarmen Kaffee bezahlt! Den konnte er nur auf Englisch bestellen. Reinhold glaubt nicht daran, dass sich die Neuhinzugezogenen gut integrieren. Im Comeniusgarten hat er ein großes Graffiti entdeckt. Das waren bestimmt Leute, die keinen Bezug dazu haben. Er hofft, dass  Wedding und Marzahn bald „hip“ werden, damit in Neukölln ein wenig Ruhe einkehrt. Andererseits macht es Spaß Touristen die Stadt zu erklären, weil sie neugierig und interessiert sind. Reinhold will gar nicht so viele Führungen machen. Eine am Tag reicht. Sonst nimmt er nicht mehr innerlich teil. Er will die Leute auch nicht mit so vielen Zahlen traktieren, denn sie können sich das alles gar nicht alles merken. Lieber erzählt er Geschichten.

Als Stadtführer muss man ein Gewerbe anmelden. Das erledigt Reinhold beim Amt in Schöneberg. In das Formular schreibt er: „Stadtführung Berlin“. Die zuständige Dame erkundigt sich, wo genau er denn Führungen anbiete. Reinhold antwortet: „In Neukölln.“ Ihre Reaktion, ihn von oben bis unten taxierend: „Was wollen Sie denn da zeigen?“ Reinhold zählt verschiedene Orte auf. „Und wer soll denn überhaupt kommen?“ So wie hier erlebt Reinhold bei zahlreichen Gelegenheiten, dass viele Berliner abschätzig über Neukölln reden. Der Rixdorfer Weihnachtsmarkt würde noch durchgehen. Dieses Vorurteil wird von der Presse noch geschürt. Im Spiegel zum Beispiel erschien ein Artikel mit dem Titel: „Endstation Neukölln“.

Doch es gibt auch erfreuliche Dinge. Jeden Mittwoch steigt Reinhold vom Neuköllner Info-Center aus mit Interessierten auf den Rathaus-Turm. Das läuft so recht und schlecht; viel verdienen kann er dabei nicht. Einmal tritt ein alter Mann in das Info-Center und sucht eigentlich das Sozialamt. Er sieht sich um, schaut auf die ausgestellten antiquarischen Bücher und schlägt eines auf. Dann zeigt er auf eine Seite und sagt: „Das bin ich als junger Mann.“ Es ist Klaus Feldmann, 80 Jahre, Sportler, Weltmeister im Kraftsport, Neuköllner von Kindheit an. Später besaß er ein Geschäft. Er hat Horst Buchholz noch gekannt. Bereitwillig posiert er für ein Foto, jedoch nicht bevor er sich sein Jackett angezogen hat. Reinhold erklärt ihn zum Ehrengast und lädt ihn zur nächsten Führung ein.

Nicht immer bereiten ihm seine Führungen nur Freude. Besonders dann, wenn er zum Berlin-Besuch angereisten Gymnasiasten Neukölln erklären soll.  Vorsichtshalber erkundigt sich Reinhold, was die Schüler sonst noch am Tag vorhaben. Wenn es dann zum Beispiel heißt, im Anschluss geht es in das Jüdische Museum, weiß er, es gibt noch Aufmerksamkeits-Kapazitäten. Schlimm ist es, wenn es sich um den letzten Programmpunkt des Tages handelt. Dann muss er die gelangweilten Gesichter der sonst so „wahnsinnig interessierten“ Gymnasiasten ertragen.

Versöhnt hat ihn neulich die Führung achtjähriger Schülerinnen und Schüler aus der Konrad-Agahd-Schule, bei der nicht ein einziges deutsches Kind dabei war. Die Kinder lernten das alte Rixdorf kennen, wo sie noch nie gewesen sind, obwohl ihre Schule nicht einmal zwei Kilometer entfernt davon liegt. Sie waren sehr aufmerksam, offen und wissbegierig und hielten konzentriert 1,5 Stunden durch, obwohl nur die Hälfte der Zeit veranschlagt war. Reinhold ist überzeugt: aus denen wird was. Auf die Frage, was denn das Schönste an dem Tag war, antwortete ein Junge: „Dass die Lehrerin bei Kutschen-Schöne dem Hund den Ball zugekickt hat.“ Reinhold war zugleich gerührt und begeistert.

Wenn Reinhold wieder eine neue Entdeckung machen kann, ist er glücklich. Woher stammt eigentlich das wunderbare Glasmosaik im Infocenter des Rathauses? Es wurde 1908 für den Rathausneubau bei Puhl & Wagner, einer berühmten Neuköllner Glaskunst-Fabrik, hergestellt. Als Hoflieferant Kaiser Wilhelms II. erhielt die Firma Puhl & Wagner umfangreiche Staatsaufträge und entwickelte sich in nur wenigen Jahren zum führenden Unternehmen in der Umsetzung von Glasmosaiken. 1914 fusionierte sie mit der Glasmalerei Gottfried Heinersdorff und öffnete sich der modernen Kunst. 1933 erhielt die Firma Staatsaufträge des NS-Regimes. In der Nachkriegszeit sicherte sie sich zahlreiche Aufträge beim Wiederaufbau. Nach dem Mauerbau nahm das Auftragsvolumen in Berlin (West)ab. 1969 musste das Unternehmen aufgeben. Die ursprüngliche Produktionsstätte lag von 1889 bis zur Jahrhundertwende in der Berliner Straße (heute Hermannstraße), nahe dem Hermannplatz. Dann brauchte die expandierende Firma mehr Platz und ließ sich von dem berühmten Architekten Franz Schwechten in der Kiefholzstraße in Rixdorf einen mächtigen Fabrikneubau mit vorgelagertem Verwaltungs- und Wohngebäude errichten. Leider wurde der Gebäudekomplex 1972 abgerissen. Heute würde er vielleicht von einer Institution wie dem Berghain genutzt werden. Der 30 Meter hohe Schornstein, gestaltet mit Glasmosaiken, war weithin sichtbar. Die Firma Puhl & Wagner hat  im Lauf von 80 Jahren Gebäude in Berlin und in aller Welt mit Glaskunst ausgestattet wie den Berliner Dom, den Grunewald-Turm, Berliner Stadtbäder, den Martin-Gropius-Bau, das Treptower Ehrenmal, das Stockholmer Stadthaus, das KdF-Schiff „Wilhelm Gustlow“, nach dem Zweiten Weltkrieg die Foyers des Schillertheaters und den Eingang des Schöneberger Rathauses und - als Kuriosum - das Schwimmbad in der Yacht von Aristoteles Onassis, dessen Boden man nach Ablassen des Wassers hydraulisch heben und somit in eine Tanzfläche verwandeln konnte. Reinhold fasziniert es die Geschichte einer Firma zu verfolgen, die verschiedene Stilepochen und politische Systeme überlebt und mit geprägt hat.

Eine weitere Neuköllner Entdeckung: Anita Berber (1899-1928), Skandale umwehende Nackttänzerin, die Amy Winhouse der 1920er-Jahre. Ihr Grab befand sich auf dem alten, heute stillgelegten St.-Thomas-Friedhof an der Hermannstraße. Sie faszinierte ihr Publikum durch Aufführungen wie: „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, spielte in zahlreichen Filmen mit, stand Modell für Otto Dix. Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt, war mehrmals verheiratet, drogensüchtig und mit Männern wie mit Frauen liiert. Auf einer Tournee durch den Nahen Osten erkrankte sie schwer und konnte nur mithilfe von Spenden aus Berliner Künstlerkreisen zurückreisen. In der Zeit der Weimarer Republik war sie bekannt wie später Marlene Dietrich. Heute ist sie fast vergessen, gäbe es nicht Lotti Huber, die in dem Film „Anita – Tänze des Lasters“ von Rosa von Praunheim (1987) die Rolle der Anita Berber übernahm. Karl Lagerfeld soll Anita Berber wegen ihrer Eigenständigkeit und Unangepasstheit als eine der mutigsten Frauen ihrer Zeit bezeichnet haben. Im Museum Neukölln findet man nicht ein Foto von ihrem Grabstein, bedauert Reinhold. In der Zähringer Straße Nr. 13, wo sie mit Mutter, Großmutter und zwei Tanten in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, gibt es immerhin eine Gedenktafel.
(Siehe u.a.: Lothar Fischer, Anita Berber. Tanz zwischen Rausch und Tod. 1918-1928 in Berlin. Berlin 1996; sowie der Bildband von Lothar Fischer, Anita Berber. Königin der Nacht. Berlin 2004)

Bei seinen Recherchen ist Reinhold irgendwann auf  Engelbert Zaschka (1895-1955) gestoßen, einen Ingenieur und Erfinder, der aus Freiburg stammt und viele Jahre in der Selchower Straße nahe dem Tempelhofer Flugfeld gelebt hat. Zaschka zählt zu den ersten deutschen Hubschrauberpionieren und hat das Fliegen mit Muskelkraft ausprobiert. Auf dem Flughafengelände experimentierte er mit seinen selbst gebauten Fluggeräten. Seine Vision von Autostaus ließ ihn ein Faltauto konstruieren, das man zu drei Teilen zusammenklappen und wegtragen kann. Er besaß mehrere Patente und verfasste Schriften über das Wesen des Trag- und Hubschraubers. Kaum zu glauben, dass er auch Komponist von Unterhaltungsmusik war. 1928 schrieb er zum Beispiel den Schlager: „Wer hat denn bloß den Hering am Schlips mir festgemacht?“, hatte aber wenig Erfolg damit. Reinhold will mehr wissen und fragt beim Museum in Freiburg nach. Doch dort kennt man keinen Engelbert Zaschka und fügt hinzu: Übrigens, Freiburg habe genügend berühmte Männer und Frauen hervorgebracht.

Das Spektrum der Neuköllner Themen scheint unendlich zu sein. Besonders spannend findet Reinhold die Situation der Schulen in den 1920er-Jahren und erwähnt die Namen Kurt Löwenstein, von 1921 bis 1933 Stadtrat für Volksbildung in Neukölln, sowie Käte Frankenthal, 1928 Schulärztin in Neukölln, die sich für wichtige sozialistische Reformen eingesetzt haben. Sie unterstützten den Pädagogen Fritz Karsen, Direktor des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums, das in Karl-Marx-Schule umbenannt wurde, eine Einheitsschule mit moderner Erziehung, Schulspeisung und einkommensabhängige Schulgelder einzuführen. Durch den neuen Bildungsweg konnten auch Arbeiter das Abitur ablegen. Neukölln war damals führend bei der Schulreform, die in ihrer Fortschrittlichkeit bis heute nicht übertroffen wird.

Last not least muss noch unbedingt der Körnerpark genannt werden. Im Park-Café wird Reinhold eines Tages die Quittung einer Tangoband überreicht, die vor einigen Jahren dort auftrat, unterschrieben von „Annette Fischer, geb. Körner, Ur-Ur-Enkelin von Franz Körner“. Wie nett! Reinhold würde sie gern einmal kennenlernen. Franz Körner (1838-1911) ist der Erbauer des Körnerparks, ein reich gewordener Kiesgrubenbesitzer, der den Park angelegt und ihn später der Stadt übereignet hat. Sein Buch mit dem Titel: „Eine Fahrt ins Wunderland, Reisebilder aus dem Jahr 1904“ kann Reinhold unbedingt empfehlen. Ein Reprint ist im Museum Neukölln erhältlich.

Was Neukölln ausmacht, sind bestimmte Menschen, die etwas für den Bezirk oder ihren Kiez tun. Leute wie Franz Körner, Frau Dr. Kolland, die als Amtsleiterin 33 Jahre lang für die Kultur gekämpft hat, die Bürgerstiftung und viele andere, die sich für Neukölln einsetzen. So soll es bleiben, wünscht sich Reinhold, sein Neukölln soll nicht in der Masse der zugezogenen jungen Leute untergehen. Und er lädt ein ins Theater „Hotel Rixdorf“, wo er mit anderen Neuköllner*innen auftritt. Es liegt nahe dem Böhmischen Platz, der sich zurzeit durch den Einzug großer Gaststätten und edler Geschäfte sehr verändert. Das Theater gehört dem Schauspieler Artur Albrecht, der dort vor 10 Jahren in einem leer stehenden Laden das Puppentheater „Central Rixdorf“ eingerichtet hat. Jetzt ist der Platz chic, der Laden teurer, so dass die Theaterleute das Theater zu einem Fünf-Sterne-Hotel bestimmten und ihm den Namen „Hotel Rixdorf“ gaben. Reinhold braucht das Theater zum Ausleben. Eigentlich sei er ein schüchterner Mensch, meint er. Seine Erziehung verlief nach der Vorgabe: „Nur nicht auffallen, was könnten denn die Nachbarn sagen!“ Nun hat er erkannt, dass er auffallen kann und ist froh darüber. Seine Schauspielerkollegen sind Individualisten, dadurch gestalten sich die Inszenierungen manchmal kompliziert. Reinhold aber findet: „Das ist total schön.“
Und eines glaubt er tatsächlich: dass im Herzen jeder „Neuköllner“ ist.












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